Sarah Fründt
EINLEITUNG
Museen stehen aktuell vor großen Herausforderungen: Fast alle sind damit konfrontiert, wie man existierende Sammlungen für ein heutiges Publikum interessant macht, neue Besucher*innenschichten und -gruppen erschließt, sich den Chancen und Herausforderungen von Digitalisierung und neuen Medien am besten stellt, und wie eine gelungene Balance zwischen Bildung und Unterhaltung aussehen kann. Damit einher geht eine zunehmende Beschäftigung mit dem Museum als gesellschaftlicher Institution, die nicht nur als Aufbewahrungs- und Präsentationsort von Objekten dient, sondern auch eine eigene Geschichte hat. In den in Ausstellungen präsentierten Narrativen, in der Auswahl von Objekten, aber auch in den Sammlungs- und Anschaffungspraktiken spiegelt ein Museum gesellschaftliche, politische, soziale oder wirtschaftliche Trends und Strömungen der jeweiligen Zeit. Und so überrascht es wenig, dass sich in vielen Museen die Aufmerksamkeit derzeit auch auf die eigene Geschichte und die Entstehungskontexte der jeweiligen Sammlungen richtet. Ein Paradebeispiel ist die zunehmende Aufarbeitung von Provenienzen in Bezug auf die NS-Zeit. Doch auch andere Museen besitzen sogenannte sensible Objekte bzw. Sammlungen, also Objekte, deren Beschaffung oder Aufbewahrung je nach Perspektive als problematisch verstanden werden kann.
Zwar ist schon lange bekannt, dass jede Sammlung potentiell problematische Objekte besitzen kann, aber die Begrifflichkeit der sensiblen Dinge oder sensiblen Sammlungen entwickelte sich hierzulande erst in den letzten Jahren. Wegweisend für die deutschsprachige Debatte war das Werk „Sensible Sammlungen“ (BERNER et al. 2011), in dem die Autorinnen anhand unterschiedlicher Sammlungen der kolonialen Rassenkunde (Messdaten, Gesichtsmasken, Lautarchive, Fotos etc.) und der NS-Rassenanthropologie (Gipsabformungen von Köpfen, Gesichtsmasken etc.) nicht nur den Begriff etablierten, sondern auch die potentielle Bandbreite sensibler Sammlungen aufzeigten.
Zusammengefasst fallen darunter Objekte, deren museale Aufbewahrung, Präsentation oder Beforschung nicht unumstritten ist. Was genau zu den sensiblen Objekten gehört, ist häufig schwierig zu definieren und erfordert fast immer eine umfassende Begutachtung des Einzelfalls. Möglich ist allenfalls eine grobe Einteilung in Objekte, die aufgrund ihrer materiellen oder inhaltlichen Beschaffenheit selbst als sensibel anzusehen sind, und solche, bei denen die Umstände von Herkunft, Herstellung, Erwerb, Aneignung oder Musealisierung fragwürdig sind. Natürlich ist wie jede Kategorisierung auch diese unvollständig und vereinfachend, deshalb sollte sie keinesfalls als absolute Definition, sondern lediglich als eine Verständnishilfe verstanden werden. Einzelne Objekte können durchaus in beide Kategorien fallen bzw. gleich mehrfach sensibel sein.
Zur ersten Kategorie gehören all diejenigen Objekte, die aufgrund einer besonderen, ihnen von einer bestimmten Personengruppe zugeschriebenen Qualität sensibel sind. Darunter fallen beispielsweise sakrale Gegenstände, Grabbeigaben oder auch politische Symbolträger (wie royale Insignien, Nationalheiligtümer etc.).
Zur zweiten Kategorie gehören die bereits angesprochenen Objekte mit NS-Provenienz, Raub- und Beutegut, Funde aus illegalen Grabungen, Kunstwerke aus illegalem Handel oder Schmuggel sowie Objekte aus kolonialen Kontexten. Letztere können sich zum einen direkt äußern (z.B. im Falle von Grabraub, Plünderung im Rahmen von kriegerischen Auseinandersetzungen, Ausnutzung von Machtbeziehungen etc.), aber auch indirekt, z.B. wenn die besagten Objekte (und hierzu gehören dann auch Abbildungen, Messdaten, Ton- und Videoaufnahmen) zur kolonialen Wissensproduktion genutzt wurden (vgl. FRÜNDT 2015a). Im Folgenden werde ich mich aus Platzgründen vor allem mit Objekten beschäftigen, die in ethnologischen Sammlungen vorkommen. Klassischerweise handelt es sich dabei häufig um menschliche Überreste, sakrale bzw. geheime Gegenstände (im Englischen häufig als ‚Secret/Sacred‘ bezeichnet), Grabbeigaben oder politische Bedeutungsträger, von denen die meisten im Zusammenhang mit der Kolonialzeit stehen. Damit ist allerdings weder gesagt, dass einige der Überlegungen nicht auch für andere Sammlungstypen gelten können, noch, dass sich in ethnologischen Sammlungen keine Objekte aus illegalen Grabungen, Schmuggel oder mit NZ-Provenienz finden. Es handelt sich lediglich um eine Schwerpunktsetzung.
RECHTLICHE SITUATION
Während in Staaten wie den USA oder Australien bereits Gesetze und professionelle Richtlinien zum Umgang mit spezifischen Formen sensibler Objekte existieren, wie sie in ethnologischen Sammlungen vorherrschen, gibt es in Deutschland bisher lediglich die „Empfehlungen zum Umgang mit Präparaten aus menschlichem Gewebe in Sammlungen, Museen und öffentlichen Räumen“ des Arbeitskreises „Menschliche Präparate in Sammlungen“ (2003) und die vom Deutschen Museumsbund herausgegebenen „Empfehlungen zum Umgang mit menschlichen Überresten in Museen und Sammlungen“ (2013), die sich beide ausschließlich auf menschliche Überreste beziehen. Hinzu kommen museale Empfehlungen wie der „Code of Ethics“ des International Council of Museums (ICOM) (1986), der allerdings nicht spezifisch für die deutsche Situation entwickelt wurde, und außerdem in seiner Aussage sehr vage ist. Außerdem existieren eine Reihe völkerrechtlicher Abkommen, Verträge und Konventionen, die jedoch entweder für deutsche Sammlungen und Institutionen nicht bindend sind, oder, durch ein Rückwirkungsverbot ausgestattet, keine Anwendung auf Sammlungen finden, die vor mehr als 50 Jahren angelegt wurden. Stellt eine ethnologische Sammlung also fest, dass es Objekte in ihrem Bestand gibt, die sie aus verschiedenen Gründen für sensibel hält, ergibt sich daraus zunächst keine zwingende Folge. Es gibt keine rechtlich bindenden Vorgaben zum Umgang; stattdessen handelt es sich letztendlich um eine Gewissensfrage für die betreffende Institution bzw. ihre Mitarbeiter*innen.
Mögliche Reaktionen auf das Entdecken eines sensiblen Objekt reichen von einer Veränderung im Umgang (z.B. Hinzufügen einer entsprechenden Erläuterung neben dem Objekt; Entfernung aus der öffentlichen Ausstellung), über eine besondere Form der Aufbewahrung im Depot (Zugang limitiert auf bestimmte Personen oder Personengruppen; gesonderter Depotbereich; Sichtschutz), über eine Zusammenarbeit mit den Herkunftsgesellschaften um die mögliche Zukunft des Objektes in der Sammlung zu besprechen, bis zur Rückgabe der Objekte an ihre ursprünglichen Besitzer bzw. deren Nachkommen (Individuen, Gesellschaften, Nationalstaaten). In Einzelfällen kann es sogar zu einer Vernichtung bzw. Bestattung der Objekte kommen, wie es beispielsweise im Zusammenhang mit menschlichen Präparaten aus Unrechtskontexten der NS-Zeit oder des DDR-Regimes vor Jahren praktiziert worden ist.
Erscheinen die ersten Möglichkeiten noch relativ unproblematisch für eine Sammlung und einfach durchführbar, ergeben sich bei Rückgabe oder auch Vernichtung bzw. Bestattung durchaus relevante Diskussionspunkte für die Sammlungsverantwortlichen. Sind diese Möglichkeiten rechtlich überhaupt denkbar? Welche Verantwortungen hat das Museum gegenüber dem Träger, der hiesigen Gesellschaft, aber auch den ursprünglichen Besitzern? Ist eine Rückgabe auch denkbar, wenn damit der Erhalt des Objektes unsicher scheint? Oder wiegt der Bewahrungsauftrag des Museums an dieser Stelle stärker als ethische Bedenken? Kann ein Unrecht verjähren oder sind die heutigen Institutionen in hohem Maße für ihre koloniale Vergangenheit verantwortlich und damit zur Aussöhnung (engl. Reconciliation) verpflichtet? Wie ist ein Anwärter auf ein Objekt zweifelsfrei identifizierbar? Kann sich eine Rückgabe oder Vernichtung im Nachhinein auch als Fehler herausstellen?
In einem Forschungsprojekts am Frobenius-Institut bzw. dem Exzellenzcluster Normative Ordnungen an der Universität Frankfurt wurden zwischen 2013 und 2015 von mir mehr als 20 Interviews mit Vertreter*innen deutschsprachiger ethnologischer Sammlungen durchgeführt. Im Kern ging es dabei um die Rückgabedebatte, also die Frage, ob und in welcher Form Museen und Sammlungen auf die Forderungen nach Rückgabe sensibler Objekte reagieren bzw. in der Vergangenheit reagiert haben. Angesichts der fehlenden rechtlichen wie auch institutionellen oder politischen Vorgaben ist es kein Wunder, dass man die Kernaussage der Interviews mehrheitlich mit „Es ist kompliziert… Es ist komplexer… Ganz so einfach ist es nicht…Man muss natürlich auch bedenken, dass…“ treffend zusammenfassen kann. Museumsmitarbeiter*innen sehen sich mit einer Situation konfrontiert, in der sie die damaligen Sammlungskontexte und die Forderungen heute lebender Gesellschaften mit den Vorgaben eines Museums und ihren eigenen Vorstellungen von der angemessenen Aufbewahrung von Objekten zusammenbringen müssen.
DESIDERAT PROVENIENZFORSCHUNG
Vor der Frage nach dem möglichen Umgang mit sensiblen Objekten steht jedoch erst einmal ihre Identifizierung in der Sammlung. Das setzt eine ausführliche und zielgerichtete Provenienzforschung voraus. Denn nicht jedes Objekt lässt sich auf den ersten Blick als problematisch oder unproblematisch kategorisieren. Zwar gibt es bestimmte Objektgruppen, wie beispielsweise menschliche Überreste, anthropologische Daten, oder auch als sakral bekannte Gegenstände, bei denen eine Sensibilität wahrscheinlich ist, doch auch hier kann sie keinesfalls a priori vorausgesetzt werden. Schließlich enthalten beispielsweise anthropologische Sammlungen in der Regel auch archäologische Skelette aus dem näheren Umland, deren Aufbewahrung und Beforschung – zumindest derzeit in Deutschland – wenig umstritten oder problematisch ist. Viele ethnologische Objekte enthalten eingearbeitete menschliche Überreste wie Haare oder Fingernägel ohne dass sie deswegen gleich sensibel sind. Und umgekehrt: ein nach außen hin wie ein Alltagsobjekt wirkender Gegenstand kann durch den Musealisierungsprozess, also beispielsweise seine Verstrickung in illegale Grabung und internationalen Schmuggel, sensibel geworden sein.
Provenienzforschung ist zunächst einmal Forschung am Objekt, genauer: die objektbiografische Suche nach der Herkunft des Objektes und die möglichst lückenlose Rekonstruktion seines Weges in die heute besitzende Sammlung. Im methodischen Vorgehen unterscheidet sie sich damit kaum von anderen Forschungen am Objekt, die beispielsweise im Rahmen von Inventarisierungsmaßnahmen oder wissenschaftlichen Projekten durchgeführt werden (siehe Bild 1). Jedoch ist die Fragestellung eine spezifische. Denn es werden nicht alle Informationen zum Objekt gesucht, sondern es wird gezielt gefragt, unter welchen Umständen das Objekt ins Museum gekommen ist, und welche Bedeutung es heute (oder damals) für Menschen außerhalb des Museums hat bzw. hatte.
Bild 1: „Forschung am Objekt“. Quelle/Copyright: Sarah Fründt, Freiburg, 2016.
Traditionell wurde Provenienzforschung meist in Reaktion auf eine konkrete Anfrage oder einen Anfangsverdacht durchgeführt; häufig auch in Verbindung mit der Vorbereitung einer Ausstellung oder einer Publikation. Doch in jüngster Zeit mehren sich an ethnologischen Museen die Forschungsprojekte, die sich – häufig in Kooperation mit einer Universität – intensiver mit der Provenienz bestimmter Konvolute oder Bereiche der Sammlung auseinandersetzen wollen (z.B. Linden-Museum Stuttgart/Universität Tübingen 2016, Übersee-Museum Bremen/Universität Hamburg 2016). Entsprechend scheint es höchste Zeit zu überlegen, wie diese Bemühungen in Zukunft besser kanalisiert und systematisiert und damit auch nachhaltiger gestaltet werden können.
UTOPIE PROVENIENZFORSCHUNG?
Es gibt mehrere Gründe, warum in der Vergangenheit punktuelle Provenienzforschung vorherrschend war. Zum einen lag dies an den knappen Ressourcen, sowohl in zeitlicher als auch in finanzieller Sicht. Provenienzforschung ist, wie jegliche historische Quellenforschung, sehr aufwendig und erfordert eine gewisse Expertise und eine Vertrautheit mit den Kontexten. Dies ist im Fall der ethnologischen Sammlungen noch potenziert durch die extrem große Vielfalt an Objektarten und Herkunftsorten (mit jeweils spezifischen historischen Entwicklungen, Kulturen und Sprachen) sowie die große Menge an Objekten. Ein Experte für namibische Geschichte könnte vielleicht den entsprechenden Sammlungsteil bearbeiten, wäre aber sicherlich überfragt, im Anschluss zu den neuseeländischen Gegenständen überzugehen.
Ein weiteres Problem ist der Zugang zu den Objekten bzw. zu den Informationen in Museumsarchiven. Beides ist häufig sehr eingeschränkt. Nach dem heutigen Stand der Erkenntnis besitzt keine ethnologische Sammlung in Deutschland eine vollständig öffentlich zugängliche und von außen zu recherchierende Objektdatenbank. Stattdessen müssen in der Regel alte Ausstellungskataloge gewälzt oder Kurator*innen persönlich kontaktiert werden. Letztere können dann häufig nicht alle gewünschten bzw. erforderlichen Informationen liefern – sei es, weil nicht alle Objekte überhaupt (visuell) inventarisiert sind (insbesondere die Inventarisierung der in der Kolonialzeit erworbenen „Massen“ ist häufig nicht vollständig abgeschlossen), sei es, weil Informationen zu den Objekten fehlen, oder zumindest falsch oder einseitig sind (z.B. weltanschaulich geprägt). Auch praktisch sind viele Objekte wegen unterschiedlicher Depotprobleme nicht zugänglich. Museumsarchive sind häufig nicht systematisch aufgearbeitet; Wissensweitergabe innerhalb des Museums basiert oft auf persönlichen Beziehungen und Erinnerungen, nicht auf schriftlich auswertbaren Quellen.
NÄCHSTE SCHRITTE
- Inventarisierung vorantreiben
Ein wichtiger erster Schritt für jegliche Form der Forschung am Objekt ist die vollständige Inventarisierung der Sammlungen inklusive einer visuellen Dokumentation. Im Idealfall sind zumindest Teile dieses Katalogs auf Antrag von außen einsehbar. In einem zweiten Schritt könnten auch die zugehörigen Archivunterlagen mit den Objekten oder Konvoluten verknüpft werden.
- Systematiken für Provenienzforschung entwickeln
Angesichts der erwähnten Vielzahl von Objekten, Objektarten und Herkunftskontexten in den Sammlungen scheint es ratsam, zumindest in Ansätzen Systematiken für die Provenienzforschung zu entwickeln. Diese sollten auf Fragen reagieren wie: Müssen wirklich alle Objektgruppen/Konvolute beforschen werden oder können einige von Anfang an ausgesondert werden? Ist es sinnvoll Prioritäten zu setzen, weil bestimmte Objektgruppen stärker von Interesse sind? Orientiert man sich generell an der öffentlichen Debatte oder setzt man davon unabhängige Schwerpunkte? Wie könnten langfristige Strategien für große Sammlungen aussehen?
- Standardisierung
Es würde außerdem frühzeitig Sinn machen, sich sammlungsübergreifend auf bestimmte Standards zu einigen. Wie können Forschungsergebnisse so zugänglich gemacht werden, dass sie auch für andere Wissenschaftler*innen nutzbar sind? Auf welcher Sprache sollten sie publiziert werden, damit auch internationales Netzwerken gelingt – umso wichtiger, da die Objekte ja in der Regel nicht aus Deutschland stammen und folglich internationales Interesse hervorrufen? Ist es sinnvoll, sich auf bestimmte digitale Formate zu einigen, so dass Daten problemlos miteinander verknüpft und zwischen verschiedenen Datenbanken ausgetauscht werden können?
- Vernetzung
In Anbetracht der finanziellen und personellen Kapazitäten ist es außerdem sinnvoll, über Synergieeffekte nachzudenken. Statt einzelne Personen einzelne Sammlungen aufarbeiten zu lassen, könnte beispielsweise eine sammlungsübergreifende Konzentration auf bestimmte Sammler, Konvolute oder Herkunftskontexte bessere und umfassendere Ergebnisse erbringen. Denkbar sind dabei nicht nur Verbundprojekte mit anderen Museen und/oder Universitäten im In- und Ausland, sondern auch Kooperationen mit Herkunftsgesellschaften. Zusammenarbeit ist hierbei sowohl real als auch virtuell gestaltbar. Wie können für solche Provenienzforschungsprojekte unterschiedliche Wissenskonzepte genutzt und kombiniert werden? Was kann die Sammlung im Gegenzug den Kooperationspartnern anbieten?
- Öffentlichkeitsarbeit und Finanzierung
Einer der wichtigsten Punkte ist jedoch sicherlich eine entsprechende Öffentlichkeitsarbeit. Klassischerweise geht der Druck öffentlicher und privater Geldgeber*innen eher in Richtung Ausstellung und Eventprogramm: Forschung an Objekten ist häufig nicht „sichtbar“ und daher weniger beliebt. Das muss sich ändern: Besucher*innen und Politik müssen verstehen, dass (Provenienz)Forschung elementare Aufgabe von Museen ist. In einem ersten Schritt müssten – analog zur NS-Provenienzforschung – Projektfördermöglichkeiten etabliert werden, auf die sich Sammlungen bewerben können. Um Nachhaltigkeit und umfassende Forschungsprojekte zu generieren, muss Provenienzforschung dann jedoch institutionell unabhängig von Projektlaufzeiten verankert werden. Umgekehrt könnten sich Sammlungen überlegen, wie die Ergebnisse dieser Forschungen öffentlich nutzbar wären, ob sie also beispielsweise für Ausstellungen interessant aufbereitet werden könnten (vgl. die Ausstellung „Heikles Erbe“ im Landesmuseum Hannover von September 2016 bis Februar 2017).
EXKURS UND AUSBLICK
Ethnologische Museen stehen weltweit vor den gleichen spezifischen Problemen, die einerseits mit der Fach- und Institutionsgeschichte, andererseits mit dem Gegenstand von Sammlung, Forschung und Ausstellung zusammenhängen (vgl. FRÜNDT 2015b). In Neuseeland entwickelten sich aus diesen Spannungen völlig neue Museumskonzepte, die darauf abzielten, Māori federführend an der Entwicklung und Ausrichtung der Museen zu beteiligen. Eine der wichtigsten Entwicklungen, die sich aus dieser neuen Ausrichtung ergab, ist die Ablösung des klassischen Besitzkonzeptes durch die Idee des Guardianship (Maori: kaitiakitanga). Kulturelles Erbe der Māori (taonga), das im Museum aufbewahrt wird, gehört nicht dem Museum, sondern dem Land und den Vorfahren. Museen sind lediglich Hüter und Bewahrer (Maori: kaitiaki) dieser Objekte und sind für ihre ordnungsgemäße Behandlung und Aufbewahrung zuständig. Durch dieses neue Museumsverständnis kam es außerdem zu einem Wechsel der Perspektive: statt nach innen auf die Sammlung, richtete sich der Blick nach außen auf die Öffentlichkeit außerhalb des Museums und ihre Beziehung zu den Objekten. „Maori have moved from being colonised subjects whose material culture was captured in museums, to active audiences for exhibitions of their culture, to powerful partners of museums, working both within these institutions as staff and board members, and outside their walls as stakeholders, visitors and more. Maori have moved beyond models of consultation and collaboration to become active patrons“ (McCarthy et al. 2013, S. 7).
Exemplarisch kann dies am 1992 aus Vorgängerinstitutionen hervorgegangenen Museum of New Zealand Te Papa Tongarewa in Wellington verdeutlicht werden: Von dessen Grundprinzipien sind die folgenden drei für diesen Kontext relevant: „Te Papa is Bicultural. Te Papa values and reflects the cultural heritage and diversity of Tangata Whenua [= Māori] and Tangata Tiriti [Pakeha = European descendants] […]. Te Papa Speaks with Authority. All of Te Papa’s activities are underpinned by scholarship drawing on systems of knowledge and understanding including mātauranga Māori. […] Te Papa Acknowledges Mana Taonga. Te Papa recognises the role of communities in enhancing the care and understanding of collections and taonga ” (Te Papa 2002/2003, S. 5; Hervorhebungen SF).
Eine vergleichbar bi-kulturell ausgerichtete Institutionen existiert in der deutschen Museumslandschaft nicht und wäre wohl auch wenig sinnvoll angesichts der Tatsache, dass die deutschen Sammlungen multikulturell ausgerichtet sind – welcher Kultur wollte man hier den Vorzug geben? Die Idee, Museen stärker als Hüter und Bewahrer von Kulturgut zu verstehen, und die jeweilige Öffentlichkeit (auch international) als mitverantwortlich für die Pflege und Interpretation der Sammlung, hat jedoch auch in Deutschland Potenzial.
SCHLUSSBEMERKUNG
Im Vergleich zu Museen in Neuseeland, Australien, den USA oder Kanada gab es in der deutschen Museumslandschaft über lange Zeit keine nennenswerten Entwicklungen in Bezug auf Aufarbeitung der Sammlungen oder umfassende Kooperationen mit den sogenannten Herkunftsgesellschaften. Erste Rückgaben menschlicher Überreste erfolgten bis auf wenige Ausnahmen erst nach 2000; Rückgaben anderer Objekte sind bisher so gut wie keine erfolgt. Allerdings sind deutliche Veränderungen in der Einstellung von Museumsmitarbeiter*innen erkennbar. Herrschten in den 1970er und -80er Jahren vielerorts noch prinzipielle Widerstände gegen die mögliche Rückgabe von Objekten vor, sind diese heute mehrheitlich praktischen Erwägungen gewichen. Das Bewusstsein über sensible Sammlungen wächst stetig. So gibt es z.B. nur noch sehr wenige Sammlungen, die außereuropäische menschliche Überreste unkommentiert ausstellen würden. Auch existiert mittlerweile eine Vielzahl von Projekten zur Zusammenarbeit mit den sogenannten Herkunftsgesellschaften was Fragen der Aufbewahrung, Deutung und Ausstellung von Objekten angeht, auch wenn diese durch die große räumliche Distanz naturgemäß etwas kleinteiliger ausfallen als in den sogenannten ehemaligen Siedlerkolonien. Im Zusammenhang mit diesen Veränderungen in der ethnologischen Museumslandschaft wird Provenienzforschung zunehmend zum wichtigen Desiderat. Ethnologische Provenienzforschung muss dabei entsprechende historischer Forschung mit einer Zusammenarbeit mit Herkunftsgesellschaften verbinden. Im Ergebnis entsteht daraus eine kooperative Provenienzforschung mit offenem Ausgang – sie kann eine Rückgabe der betreffenden Objekte einleiten, aber sie kann auch die Zusammenarbeit stärken und wichtige Informationen über die Sammlungs- und Fachgeschichte liefern. Letztendlich kann ein Museum durch Provenienzforschung und die sich daraus ergebenen Beziehungen nur gewinnen.
LITERATUR
Berner, Margit/Hoffmann, Anette/Lange, Britta (Hrsg.): Sensible Sammlungen. Aus dem anthropologischen Depot, Hamburg 2011.
Bundesärztekammer, Arbeitskreis „Menschliche Präparate in Sammlungen“: Empfehlungen zum Umgang mit Präparaten aus menschlichem Gewebe in Sammlungen, Museen und öffentlichen Räumen, in: Deutsches Ärzteblatt 100 (2003), S. A 1960-A 1965.
Deutscher Museumsbund: Empfehlungen zum Umgang mit menschlichen Überresten in Museen und Sammlungen, 2013, http://www.museumsbund.de/fileadmin/geschaefts/dokumente/Leitfaeden_und_anderes/2013_Empfehlungen_zum_Umgang_mit_menschl_UEberresten.pdf (25.03.2016).
Fründt, Sarah: S wie Sensible Sammlungen, 2015a, https://sensmus.hypotheses.org/117 (21.03.2016).
Fründt, Sarah: Wer spricht? Ethnologische Museen und postkoloniale Herausforderungen. In: Hoins, Katharina; von Mallinckrodt, Felicitas (Hrsg.): Macht. Wissen. Teilhabe. Sammlungsinstitutionen im 21. Jahrhundert. Bielefeld 2015b, S. 97-108.
International Council of Museums: Ethische Richtlinien für Museen von ICOM, Paris 1986.
Linden-Museum Stuttgart/Eberhard-Karls-Universität Tübingen: Schwieriges Erbe. Forschungsprojekt zum museologischen und wissenschaftlichen Umgang mit kolonialzeitlichen Objekten in ethnologischen Museen. Pressemitteilung vom 3. März 2016, http://www.lindenmuseum.de/fileadmin/user_upload/images/fotogalerie/Presse/PM_Schwieriges_Erbe.pdf (16.11.2016).
McCarthy, Conal/Dorfman, Eric/Hakiwai, Arapata Hakiwai/Twomey, Āwhina: Mana Taonga: Connecting Communities with New Zealand Museums through Ancestral Māori Culture, in: Museum International 257-260 (2013), S. 5-15.
Te Papa: Te Papa Annual Report 2002/2003, Wellington, https://www.tepapa.govt.nz/sites/default/files/annual_report_2002-03.pdf (16.11.2016)
Übersee-Museum Bremen/Universität Hamburg: Museumssammlungen im Spannungsfeld der sich etablierenden kolonialen Situation. Die Afrika-Sammlungen des Übersee-Museums Bremen aus den ehemaligen deutschen Kolonien, Stellenausschreibung vom 01.10.2016, http://www.hsozkult.de/job/id/stellen-13516?language=de (16.11.2016).
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Professor Dr. Wolfgang Schneider
Direktor des Instituts für Kulturpolitik der Universität Hildesheim und Inhaber des UNESCO Chair in „Cultural Policy for the Arts in Development“
ist Ethnologin und Anthropologin. In den letzten Jahren hat sie für mehrere ethnologische Sammlungen gearbeitet (u.a. RJM in Köln, Te Papa in Neuseeland). 2013 bis 2015 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Exzellenzcluster Normative Orders in Frankfurt (Forschungsthema: Restitutionspolitik ethnologischer Museen); danach wechselte sie zum University College Freiburg. Derzeit arbeitet sie an ihrer Dissertation. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Wissenschaftsgeschichte und postkoloniale Museologie, hier insbesondere der Umgang mit sensiblen Objekten. Dazu hat sie bereits diverse Publikationen veröffentlicht (z.B. „Die Menschen-Sammler“); außerdem ist sie Herausgeberin des Blogs Museum und Verantwortung.